Thema: Grenzen hinter sich lassen
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Meine Ansprache anlässlich der Einzelausstellung in der Nationalgalerie in
Bishkek / Kyrgyzstan 2001
Grenzen sind Form gebende Linien, die deutlich werden lassen, dass ein
Bereich an einen anderen stößt, zum Beispiel Länder- und Sprachgrenzen, weltanschauliche und kulturelle Grenzen, natürliche Grenzen von Berg und Tal.
Solange man sich innerhalb der Grenzziehung aufhält, bleiben die eigenen Gedanken ruhig und vertraut. Fast alles ist einem bekannt und das, was einem nicht so alltäglich erscheint, wird doch ziemlich
schnell in die bekannte Struktur eingepasst.
Anders ist es, wenn man die Grenzen überschreitet. Man ist plötzlich ein Fremder.
Das bedeutet Verunsicherung der bisherigen Wertmaßstäbe und damit Schwächung und gleichzeitig Stärkung der eigenen Identität. Schwächung, weil man keinen Respekt erwarten kann. Man hat sich noch keinen Namen gemacht. Andererseits Stärkung der eigenen Identität, weil einem auf einmal deutlich wird, wer man selber im Unterschied zu den anderen ist und die eigenen kulturellen Werte vielleicht zum ersten Mal bewusst wahrnimmt.
Grenzen hinter sich lassen ist mehr als Grenzüberschreitung.
Es bedeutet meiner Ansicht nach, dass die Grenzziehungen überwunden sind. Dass man sich nicht mehr damit aufhält festzustellen, wo ein Bereich an den anderen stößt. Dass man nicht darin verharrt, die
Trennungslinie zu verdeutlichen, sondern dass man erkennt, dass alle Grenzziehungen nur theoretische Hilfen sind, um eine überschaubare Struktur zu haben, innerhalb derer man beruhigt seinen
alltäglichen Arbeiten und Erfahrungen nachgehen kann.
Wenn Grenzen sich auflösen, erweitert sich der Raum, in dem man Kopf, Herz und Hand bewegen kann. Blockierungen entfallen, die Phantasie lässt sich anregen von bisher ungeahnten Gedanken und Bildern.
Das Denken wird spielerisch und lässt mehr Kombinationen zu als zuvor. Die Gefühle sperren sich nicht gegen Ungewohntes. Im Gegenteil, der Gefühlsreichtum wächst. Und die Angst, auch zukünftig immer
wieder Neuland zu betreten, wird kleiner und kleiner und gibt dem Mut und der Neugier Raum.
Doch woher kommt die unendliche Bereicherung?
Sie wächst in der Erkenntnis:
„Alle Menschen sind gleich und doch verschieden.
Das Gleiche verbindet und das Verschiedene bereichert."
In dem Bewusstsein, dass jeder Einzelne von uns wichtig, aber gleichzeitig doch nur ein Teil der gesamten Schöpfung ist, wird mir meine Größe und meine Kleinheit bewusst. Allen Menschen, die ähnlich
denken, bin ich verwandt. Wie ich feststellen konnte, gibt es Menschen mit dieser Überzeugung auf der ganzen Welt. Das macht es mir leichter, meine Landesgrenzen und kulturellen Grenzen nicht nur zu
überschreiten, sondern zeitweilig hinter mir zu lassen. Das bereichert meine Phantasie und bringt die Vielfalt in meine künstlerische Arbeit.
Doch die Auseinandersetzung mit der Thematik bedeutet auch, dass ich erkannt
habe, dass der Mensch in der kurzen Zeit, in der er hier auf dieser Erde ein Leben verbringt, in gewisser Weise durch sein duales Denken begrenzt ist, und dass die Dualität ihn zwar zu
mehr Selbstbewußtheit führt und damit auch zu vielfältigen Erkenntnissen doch nur in erhellten Momenten zum "All eins sein". Genau in diesem Zwiespalt vom Für und Wider gilt es, wenigstens ab
und zu die Grenzen hinter sich zu lassen, sich frei zu fühlen und sich für Neues zu öffnen, Momente des Glücks zu erfahren. Dies gilt für die meisten von uns und so auch für mich.
IMKA 2001